Die Bundeskanzlerschaft Ludwig Erhards deckt sich auffallend genau mit meiner Grundschulzeit von der Einschulung 1963 bis zum Ende des vierten Kurzschuljahres im Dezember 1966. Für mich war es damals eine tolle Zeit, vielleicht waren es sogar die besten Jahre meines Lebens. Ich hatte schulische Anforderungen, die ich locker bewältigen konnte, gehörte neben einem Kai J., der später Tierarzt wurde, sogar zu den Klassenbesten mit entsprechenden Zeugnisnoten, und hatte dementsprechend an den Nachmittagen viele Freiräume, die ich zusammen mit meinen Kumpels aus der direkten Nachbarschaft nutzte. Auch fuhren wir alle zwei Jahre in den Urlaub nach Italien und Österreich oder besuchten Verwandte in der "Zone".
Für den zweiten deutschen Bundeskanzler, Ludwig Erhard, verliefen diese Jahre weit weniger entspannt. Seine Kanzlerschaft hat in den Augen vieler Historiker nur wenig Gnade gefunden. Viele sahen in ihm einen eher schwachen und für das Amt ungeeigneten Regierungschef, der die Zeichen der Zeit nicht erkannte oder nicht erkennen wollte. Jemand, der zwischenmenschlich vielleicht nobel, aber in der harten politischen Praxis eher weltfremd war. Jemand, der vor allem von seinem in den Fünfzigern erworbenen Ruhm als "Vater des Wirtschaftswunders" lebte. Jemand, dem der Zugang zur Macht nicht reizvoll erschien, sondern eher anödete. Jemand, der bereits relativ "verbraucht" in das Amt des Staatchefs gelangte, und bei dem sich eine eklatante Entscheidungsschwäche und ein geringer Arbeitseifer auf das unglücklichste verbanden.
Innenpolitisch hinterließ Erhard einen Reformstau und außenpolitisch die Bundesrepublik Deutschland zwischen allen Stühlen sitzend. Erhards nur dreijährige Kanzlerschaft erscheint im nachhinein trotz hervorragender Rahmenbedingungen eher glanzlos und episodenhaft, eine Periode des Übergangs, ohne daß in irgendeiner Form die "Handschrift" des Kanzlers dieser Jahre zu erkennen gewesen wäre. Eine der positivsten Würdigungen von Historikern lautete: " Niemand, der um historische Gerechtigkeit bemüht ist, wird Ludwig Erhard allein an seiner Kanzlerschaft der Jahre 1963 bis 1966 messen wollen."
Festzustellen bleibt, daß Erhard aber auch eines der "Opfer" Konrad Adenauers war. Die von Adenauer ständig vor aller Welt ausgestreuten Zweifel an der außenpolitischen Zuverlässigkeit Erhards, seine Kritik an dessen mangelndem Organisationstalent und auch an dem mondänen Lebenswandel des weltoffenen Protestanten hatten Erhard vorzeitig ausgelaugt und zermürbt.
Im Volk genoß Erhard allerdings immer noch eine enorme Popularität, und nicht zuletzt dieser Umstand führte am 22. April 1963 zu seiner Nominierung als Nachfolger Konrad Adenauers. Es ging darum, Wahlen zu gewinnen. Gerhard Schröder, der fachlich und persönlich vielleicht die bessere Alternative gewesen wäre, hatte seine Kandidatur zurückgezogen, und Heinrich von Brentano sowie Heinrich Krone konnten sich nicht annähernd mit Erhards Popularität messen.
Die Regierungsbildung Mitte Oktober 1963 brachte weitere Belastungen mit sich. Erhard band sich auf Gedeih und Verderb an die FDP und verscherzte es sich darüber hinaus mit mächtigen Parteifreunden, die angesichts der Schwäche des Kanzlers rasch zu "Nebenkanzlern" aufstiegen. Der junge, die politische Folgegeneration repräsentierende Rainer Barzel mußte seinen Ministersessel bald wieder räumen und Vizekanzler Erich Mende weichen. Allerdings wurde der als sehr ehrgeizig geltende Barzel dafür Ende 1964 mit dem Fraktionsvorsitz entschädigt. Franz Josef Strauß ging völlig leer aus und wurde dadurch zu einem Intimfeind Erhards.
Erhards durchaus nicht uninteressanter "Neuer Stil" berute auf der Idee eines populistischen Volkskanzlers, der alle Partei- und Gruppeninteressen überspielen sollte. Desweiteren setzte Erhard im Gegensatz zu seinem Vorgänger auf einen liberalen Führungsstil, auf Diskussion und Kommunikation im Kabinett und vor allem auf direkte Appelle an die Medien und das deutsche Volk. Seiner Klage, daß die Gesellschaft in organisierte, ihre egoistischen Ziele verfolgenden Gruppen zerfalle, setzte er seine Idee einer "formierten Gesellschaft" entgegen. Diese recht vage gehaltene Formulierung erwies sich allerdings als eklatanter Fehlschlag und provozierte massive Polemik. Der SPD- nahe "Stern" beschuldigte den Bundeskanzler sogar, "faule Zauberformeln zu verwenden, um den Wähler zu täuschen". Im Bewußtsein der Zeitgenossen verblieb weniger der Begriff der "formierten Gesellschaft" als der der "kleinen Pinscher", mit dem Erhard seine medialen Kritiker beschimpfte.
Auch außenpolitisch geriet Erhard das Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und der Hegemonialmacht USA zum Debakel. Blauäugig glaubte er, daß die transatlantische Freundschaft zum Nulltarif zu erhalten sei. Seine USA- Reise entpuppte sich als politische Katastrophe sondergleichen und war eigentlich das letzte fehlende Mosaiksteinchen zum bevorstehenden Kanzlersturz. US- Präsident Lyndon B. Johnson hatte seit Jahren Bonn angemahnt, seinen finanziellen Verpflichtungen nachzukommen. Das hieß, die Devisenverluste auszugleichen, die den USA durch die Stationierung ihrer Soldaten in der Bundesrepublik entstanden. Nach dem Beginn der heißen Phase des Vietnamkriegs im Jahre 1965 waren die USA auf diese Mittel mehr denn je angewiesen. Erhard dagegen warb in Washington um einen Zahlungsaufschub, mußte stattdessen aber Johnsons Tadel sowie die Drohung Robert McNamaras, die amerikanischen Truppen in der Bundesrepublik zu reduzieren, über sich ergehen lassen. Dementsprechend kehrte Erhard nahezu vernichtet aus Washington nach Bonn zurück. Ende Dezember 1966 sollte dann der neue Bundeskanzler Kurt- Georg Kiesinger die von den USA gewünschte Zahlung in Höhe von 1,8 Milliarden DM an die USA bewilligen.
Dennoch brachten die Bundestagswahlen vom 19. September 1965 nochmals einen eindrucksvollen Sieg für die CDU, die mit 47,6 % der Stimmen nur knapp die absolute Mehrheit verfehlte. Geschuldet war dies vor allem dem Gipfel der Hochkonjunktur in diesem Jahr, als nahezu Vollbeschäftigung herrschte. Verluste mußte dagegen der Koalitionspartner FDP hinnehmen, dessen Stimmanteil von 12,8 % auf 9,5 % fiel. Für den Bundeskanzler kam ausschließlich eine Forsetzung der bisherigen Koalition mit den Liberalen in Betracht, und dementsprechend rücksichtslos begann der Schacher um die entsprechenden Posten. Dazu kam, daß sich Altbundeskanzler Adenauer nach längerem Schweigen wieder mit bissigen Kommentaren über den aus seiner Sicht "unfähigen" Erhard zu Wort gemeldet hatte. In diesem Zeitrahmen erhielt er sogar noch Schützenhilfe von Bundespräsident Heinrich Lübke, der ein Gegner der Politik Erhards war und, wenn schon nicht den Kanzler, dann zumindest Außenminister Gerhard Schröder ausbooten wollte. So großartig der Wahlsieg vom Frühherbst 1965 für Erhard auch war, so trostlos verlief die neue Regierungsbildung und so schwach war die neue Regierung.
Waren vor den Wahlen 1965 großzügige Steuersenkungen beschlossen, zahlreiche Wahlgeschenke verteilt und damit allmählich der Weg zur "Gefälligkeitsdemokratie" beschritten worden, so mußte Bundeskanzler Ludwig Erhard angesichts erkennbarer wirtschaftlicher Eintrübungen mit Maßhalteappellen an die Bevölkerung aufwarten. Die seit einigen Jahren sich verschärfende Krise des Ruhrbergbaus vermittelte der gesamten bundesdeutschen Bevölkerung die ersten Anzeichen eines allmählichen Endes der heißen Phase der Hochkonjunktur. Hintergrund war, daß das importierte Heizöl immer mehr die heimische Kohle verdrängte , zwischen 1958 und 1964 waren bereits 37 Groß- und 131 Kleinzechen stillgelegt worden. Nun ging das Zechensterben im Ruhrbergbau weiter, und man befürchtete eine politische Radikalisierung an Rhein und Ruhr, die Gefahren für die innere Stabiltät der Bonner Republik mit sich gebracht hätte. Die schwarzen Fahnen demonstrierender Ruhrkumpel wurden zum Menetekel für den Vater des Wirtschaftswunders. Daß Ludwig Erhard hier auf seinem ureigensten Gebiet versagte, brach ihm letztendlich politisch das Genick. Bei der Landtagswahl in NRW vom Juli 1966 verfehlte die SPD mit 49,5 % der Stimmen nur um ein Haar die absolute Mehrheit. Am 1. Dezember 1966 kam es im bevölkerungsreichsten Bundesland zur sozialliberalen Koalition unter Heinz Kühn.
Die Bundesrepublik glitt in die Rezession von 1966/67 ab, die sich im nachhinein zwar nur als Wachstumsdelle entpuppte, aber bei vielen Bundesbürgern zu fast panischen Reaktionen führte. Erhard schätzte den vorübergehenden Abschwung völlig falsch ein und lehnte eine aktive Finanz- und Wirtschaftspolitik des Staates rundherum ab, da sie dem "freien Spiel der Kräfte" widerspreche. Geldwertstabilität hatte für ihn Vorrang vor Wachstum und Vollbeschäftigung. Nach ergebnislosen Verhandlungen mit der FDP zogen deren vier Minister Erich Mende, Rolf Dahlgrün, Ewald Bucher und Walter Scheel am 27. Oktober 1966 aus dem Kabinett aus, worauf Erhard ein Minderheitskabinett bidete. Sein Autoritätsverlust beschleunigte sich rasant, er verlor schließlich jede Basis selbst bei seinen eigenen Parteifreunden.
Der Sturz des zweiten deutschen Bundeskanzlers war brutal, Erhard mußte von seinen Parteifreunden zum Rücktritt fast gezwungen werden. Am 10. November 1966 wurde in einer fraktionsinternen Abstimmung der Ministerpräsident von Baden- Württemberg, Kurt- Georg Kiesinger, als neuer Kanzlerkandidat der CDU/ CSU nominiert. Dieser hatte sich in internen Debatten gegen Rainer Barzel, Eugen Gerstenmaier und Gerhard Schröder durchgesetzt. Die Ära Ludwig Erhard war damit beendet.
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