Aus Mainz nichts Neues ? (Leitartikel von "HZ" in Ausgabe 11/1963, Seite 2)
Das Zweite Deutsche Fernsehen in Mainz hat auf einer großen Pressekonferenz seine ersten Programme vorgelegt. Sie bringen nichts Neues, soweit man aus Titeln und Inhaltsangaben schließen kann. Auch die zeitliche Aufgliederung zeigt keine umstürzende Neugliederung, bis auf den Beginn der Sendung "Heute" um 19.30 Uhr. "Heute" heißt die Mainzer Tagesschau, für die übrigens auch der attraktivere Titel "Tag im Bild" vorgeschlagen worden war. Der Zuschauer kann also seinen Fernseh- Abend ab 1. April (1963) früher beginnen. Es werden immerhin 80 % der Bevölkerung der Bundesrepublik Mainz empfangen können, man rechnet, daß rund 5 Millionen Apparate technisch für das zweite Programm eingerichtet sind.
Das Zweite Deutsche Fernsehen hat zur Zeit rund 1800 Mitarbeiter, davon 830 im Programm, 640 in der Technik und 330 in der Verwaltung (die übrigens jetzt schon schwerfällig sein soll). Aber Mainz hat bis auf unzureichende Barackenräume in Eschborn (wo die Sendung "Heute" hergestellt wird) keinen einzigen eigenen Senderaum und auch kein Fernsehhaus. Es lebt in gemieteten Studios, es lebt von Firmen, die für Mainz produzieren, es hat seine Büros über acht Häuser verstreut.
Ein Blick in das Programm der ersten Woche zeigt drei Unterhaltungssendungen, vier Fernsehspiele, drei Dokumentarberichte, zwei Sportsendungen, vier aktuelle Sendungen (Interview und Gespräch) und ein gemischtes Programm (Information und Unterhaltung). Nach den Titeln wird kaum jemand aufhorchen, weil er keinen neuen Klang hört. Es wird also alles auf die Durchführung ankommen. Wird Mainz ein persönlicher gehaltenes Programm bringen ? Mit einer betont "menschlichen" Note ? Wird es viele Sendungen Live bringen ? Wird es neue Fernseh- Formen entwickeln, die besonders gut beim Zuschauer ankommen ?
Da lägen die Chancen von Mainz; werden sie nicht genutzt, so wird der Zuschauer fragen: Aus welchem Grund wurde eine neue Anstalt gegründet ?
Fragt man die Mainzer Fernsehleute selbst, so erhält man folgende Antworten. "Wir sind froh, wenn wir die Qualität des ersten Programms erreichen können".
"In vielem kann man nichts anderes bieten als das erste Programm, aber der Wille ist vorhanden, in Einzelheiten lebendiger und menschlicher zu sein".
"Unsere Chance (das wird immer wieder gesagt) liegt in unserer zentralen Organisation, die Beweglichkeit und schnelle Entschlüsse (ohne Rücksicht auf neun Anstalten und deren Interessen und Zustimmung) erlaubt".
"Eine eigene Handschrift werden wir erst im Laufe der Zeit gewinnen können, wenn sich alles eingespielt hat".
"In einigen Sendungen arbeiten wir nach Vorbildern aus dem Ausland, aber sensationell Neues bringen wir nicht". "Gute Sendungen werden in angemessenen Abständen wiederholt werden".
"Wir bringen Übertragungen aus Theatern in der Provinz, auch wenn die Aufführungen nicht so perfekt sind wie Fernsehspiele aus technisch raffiniert eingerichteten Studios".
"In den aktuellen Sendungen wollen wir eigenen Stil zeigen".
Man kann den Mainzer Fernsehleuten, denen niemand den Mut nehmen will, nur wünschen, daß sie über Organisation und "Produktion" nicht vergessen haben, daß der Zuschauer viel erwartet: Kontrast und vor allem Konkurrenz zum ersten Programm, gewohnte Qualität in der technischen Durchführung und Neues in Linie und Stil. Wenn das in den ersten Sendungen nicht schon vorhanden sein sollte, muß es sich mindestens abzeichnen.