Wohl kaum eine andere gesellschaftliche Entwicklung hat die Sozialstruktur der bundesdeutschen Bevölkerung so nachhaltig verändert und gleichzeitig zahlreiche neue Probleme erzeugt wie die Bildungsexpansion seit den 60er Jahren, die durchaus auch als "Bildungsrevolution" bezeichnet werden kann. Sie eröffnete zweifelsohne für nicht wenige Mitbürger, so auch für mich, neue Aufstiegs- und Lebenschancen und somit eine "soziale Mobilität", die es noch in der bundesdeutschen Wirklichkeit der 50er und teilweise der 60er Jahre so nicht gegeben hatte.
Die Ursprünge der Bildungsexpansion begannen, wie so oft in dieser Zeit, in den USA. Der in den Vereinigten Staaten durch den "Sputnikschock" des Jahres 1957 ausgelöste Ruf nach besserer und vor allem verstärkter höherer Bildung drang auch nach Westeuropa. Hintergrund war natürlich auch, daß im Zeitalter des "Kalten Krieges" der ideologische Sieg auch auf dem Gebiet der Bildung errungen werden sollte.
Nach einer Anfang der 60er Jahre erschienenen Studie der OECD wurde insbesondere der Bundesrepublik Deutschland eine ausgesprochene vermeintliche "Bildungsmisere" nachgewiesen. Wenn man die zugrundegelegten Parameter wie Vorschulerziehung, Schulklassengröße, Qualität der Berufsausbildung, Abiturienten- und Studentenzahlen in Rechnung stellte, rangierte das Land insbesondere im europäischen Vergleich weit abgeschlagen. Würde sich nicht schnell etwas ändern, so wurde argumentiert, so verlöre das Land seine wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit, und Wachstum und Wohlstand wären in Gefahr.
Verstärkt wurden diese Aussagen, die zunächst durchaus nicht unwidersprochen hingenommen wurden, durch das 1964 erschienene Buch "Die deutsche Bildungskatastrophe" von Georg Picht. Um den wirtschaftlichen Niedergang der Bundesrepublik "in letzter Minute" noch abzwenden, forderte der Autor eine schiere Verdoppelung der Abiturientenzahlen sowie der Lehrer und eine massive Expansion der Universitäten. Für viele Westdeutsche, die ihre "neue" Nachkriegsidentität in erster Linie aus der damals prosperierenden Wirtschaft zogen, hatte Picht den Nerv der Zeit getroffen. Ob zu Recht, sollte die Zukunft erweisen.
Auch Ralf Dahrendorf beklagte in seinem vielgelesenen Buch "Gesellschaft und Demokratie in Deutschland" aus dem Jahre 1965 vielfältige Mobilitätshemmnisse im Bildungsbereich sowie zahlreiche verkrustete und autoritäre Strukturen in diesem wichtigen gesellschaftlichen Sektor. Kulturell und gesellschaftlich müsse man "dem Weg des Westens folgen", damit die bundesdeutsche Demokratie erst ihre eigentliche Lebenskraft erhalte. Mit diesen Forderungen erwies sich Dahrendorf als Vordenker und praktischer Wegbereiter der sozialliberalen Reformpolitik seit 1969.
Bald mündeten die ausgiebigen Reformdebatten in mehr oder weniger bis heute andauernde intensive staatliche Reformanstrengungen. Nicht nur Bildungsplanung gedieh, sondern ebenso Bildungsforschung, Bildungsökonomie und Bildungssoziologie, wobei der Scheitelpunkt der Entwicklung in den frühen 70er Jahren erreicht wurde. Der parteiübergreifende reformerische Optimismus gelangte erst in den späten 70er Jahren an sein Ende, als eine "Repolitisierung" einsetzte und die Bildungspolitik in den Einfluß eines ideologisch aufgeladenen Deutungsstreits geriet, besonders im Hinblick auf die Stellung der sehr umstrittenen Gesamtschulen im Bildungssystem.
Natürlich stellt sich die Frage, inwieweit die bundesdeutsche Bildungsexpansion seit den 60er Jahren als geglückt oder eher als gescheitert betrachtet werden muß. Die atemberaubende Entwicklung verdeutlicht der Blick auf einige Zahlen. Zwischen 1963 und 1975 stiegen die finanziellen Aufwendungen für Bildung um rund 46,5 Milliarden DM an. Die Zahl der Gymnasiasten nahm zwischen 1960 und 1970 um 526.100 zu, die der Realschüler um 432.800. Die Studentenzahlen verdoppelten sich im Zeitraum vom Ende der 50er Jahre bis 1970 auf 511.000, während sie 1980 bereits die Millionengrenze überstiegen und trotz sinkender Geburtenraten bis heute weiter steigen. Am meisten profitierten Kinder aus mittleren Angestelltenfamilien von den Reformen und: vor allem Frauen. Der Frauenanteil unter den Studenten lag 1960 noch bei 28 %, im Jahre 1975 bereits bei 36 % und 1989 bei 41 %.
Ähnlich expansive Entwicklungen zeigten sich im Bereich des Lehrpersonals. 1960 verfügte die Bundesrepublik über 210.000 Lehrer, im Jahre 1970 bereits über 313.400, und 1975 hatte sich die Lehrerschaft im Vergleich zu 1960 auf 425.900 verdoppelt.
Einen nie wieder dagewesenen Stellenschub gab es auf der Ebene der Professuren, oft verbunden mit erheblichen Einbußen bei der Lehrqualität, wie der Autor dieses Beitrags aus eigener Erfahrung bestätigen kann. In ganz Westdeutschland wurden neue Hochschulen gebaut und eröffnet, davon eine besonders hohe Zahl in Nordrhein- Westfalen. Zu den Traditionsuniversitäten Bonn, Köln und Münster trat eine Vielzahl von Neugründungen hinzu. 1965 eröffnete die Ruhr- Universität Bochum, Düsseldorf wurde im gleichen Jahr zur Volluniversität aufgewertet. 1968/69 folgten unter der neuen sozialliberalen Landesregierung Dortmund und Bielefeld, ab 1972 die Gesamthochschulen Duisburg, Essen, Paderborn, Wuppertal und Siegen sowie 1974/75 die Fernuniversität Hagen. Damit verfügte das Bundesland mit der größten Bevölkerungszahl über die dichteste und vielfältigste Hochschullandschaft in ganz Europa.
Festzustellen bleibt, daß sich aus der anfangs durchaus gutgemeinten bundesdeutschen Bildungsexpansion der 60er und 70er Jahre in vielen Bereichen allmählich eine "Bildungsinflation" herausbildete, die bis heute anhält und die zu der paradoxen Konsequenz führte, daß höhere Bildungsabschlüsse zwar "auf dem Papier" eine Aufwertung der Absolventen darstellten, diese scheinbare Aufwertung jedoch durch die Vielzahl von entsprechenden Abschlüssen gleichzeitig zu einer deutlichen Entwertung in der unerbittlichen Alltagspraxis führte. Eine Entwicklung, die bereits in den 70er Jahren allmählich begann und die bis heute anhält. Die Konsequenz daraus ist eine je nach Konjunkturlage verstärkte Akademikerarbeitslosigkeit und eine vermehrte Tätigkeit von Akademikern in Berufsfeldern, für die sie eigentlich deutlich überqualifiziert sind. Dies jedoch ist keine spezifisch deutsche Entwicklung, stattdessen ist sie in fast allen entwickelten Industrienationen anzutreffen.