Nein, die "68er" sowie alle, die sich dafür halten, waren nicht die Vorkämpfer von Emanzipation und Partizipation, denn das Jahrzehnt des Wandels und der Liberalisierung, die hier in epischer Breite thematisierten "60er Jahre", hatte bereits lange vor ihnen eingesetzt. Mittlerweile wird immer mehr der enorme Beitrag gewürdigt, den die "45er" beim Aufbau der Bundesrepublik zu einem eher westlich orientierten Gemeinwesen geleistet haben. Es waren die Geburtsjahrgänge derer, die zwischen den frühen 20er und den frühen 30er Jahren geboren, als Kinder und Jugendliche vom NS- Regime geprägt wurden und das Kriegsende überwiegend als Zusammenbruch und weniger als Befreiung wahrgenommen haben.
Der Höhepunkt des Wirkens dieser Generation, bei der es sich im wesentlichen um die Generation meiner und unserer Eltern handelt, lag in den 60er und 70er Jahren. Viele von ihnen engagierten sich für Demokratisierung und "Westernisierung", stritten für Reformen, Kritik und eine Gesellschaft mündiger Staatsbürger und trieben die deutsche Vergangenheitsbewältigung voran.
Wenn man dies so akzeptiert, stellt sich unweigerlich die Frage, wo vor diesem Hintergrund dann die Bedeutung der "68er" für unsere heutige Gesellschaft liegt. Um es gleich vorwegzunehmen: darüber scheiden sich je nach weltanschaulicher Ausrichtung bis heute die Geister. Oft stehen "Überhöhungen" bei der Bewertung dieser Generation zahlreichen Verteufelungen gegenüber, die bereits zeitgenössisch ihre Entstehung fanden. Meine persönliche Bewertung liegt dagegen ungefähr in der Mitte zwischen diesen beiden Extremen.
1968 und die Folgen war vieles gleichzeitig: eine politische Protestbewegung, ein ausgetragener Generationenkonflikt, eine Kulturrevolution mit weitreichenden Folgen, eine Renaissance des theoretischen Marxismus in der westlichen Welt, eine Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, der Durchbruch einer sehr liberalen Sexualmoral, die Entstehung einer neuen Frauenbewegung sowie in Einzelfällen die Relativierung von politisch motivierter Gewalt bis hin zum offenen Terrorismus.
Auffallend ist, daß die 68er nirgendwo als dauerhafte Organisation in Erscheinung traten, sondern oft darauf Wert legten, für eine Vielzahl von Protestbewegungen offen und anschlußfähig zu sein, je nach den sich jeweils bietenden Gelegenheiten.
In politischer Hinsicht ist die 68er Bewegung sehr kurzfristig gescheitert, hatte aber soziokulturell bedeutende Konsequenzen, da ihre Ideen ab Anfang der 70er Jahre in viele gesellschaftliche Bereiche "einsickerten". Auf längere Sicht stieg die Zustimmungsbereitschaft und der Demokratiekonsens des durchschnittlichen Bundesbürgers, und seine aktive Beteiligung an gesellschaftlichen Einrichtungen nahm zu. Dies lag aber überwiegend daran, daß bereits lange vor 1968 eine fundamentale Liberalisierung von Politik, Kultur und Gesellschaft eingesetzt hatte.
Vehemente Kritiker an den 68ern betonen dagegen die negativen Erscheinungen: politisch sei das Denken in alten marxistischen Kategorien eher rückschrittlich gewesen, da sich diese Theorie bereits als nicht praxistauglich erwiesen hätte. Auch in ihrer politischen Alltagspraxis hätten die 68er eher undemokratisch agiert und keineswegs zu einer fortschreitenden Demokratisierung der Gesellschaft beigetragen. Dagegen hätten sie, ob bewußt oder fahrlässig, die Gewaltspirale der 70er Jahre hin zum Terrorismus in Gang gesetzt.
Einzig im Abbau vieler überkommener Autoritäten seien die 68er erfolgreich gewesen, hätten es aber gleichzeitig versäumt, im Gegenzug substitutive neue Werte zu schaffen.
Nicht von der Hand zu weisen ist auch der Vorwurf, daß sich viele 68er zu heuchlerischen Scharfrichtern über ihre Elterngeneration mit deren angeblicher oder tatsächlicher NS- Vergangenheit aufspielten und Moralurteile fällten, ohne selbst Moral und Sittlichkeit zu besitzen. 1968 wird in diesem Kontext von seinen Kritikern nicht als Nachgeschichte der angeblich bis dahin unterlassenen Aufarbeitung des Nationalsozialismus interpretiert, sondern als dezidierte Vorgeschichte des Terrorismus der 70er Jahre. Bis hin zum mörderischen "Deutschen Herbst" von 1977.
Wie immer man die Geschichte dieser Jahre auch interpretieren mag: aus dieser Zeit floß sehr viel Reformdynamik in Institutionen , Parteien und Verbände aus dem gesamten gesellschaftlichen Spektrum, auch dem konservativen, ein. Seit den 70er Jahren organisierten sich zahlreiche neue Bewegungen, als erstes die Frauenbewegung (die 1968 noch absolut keine Rolle spielte), die Öko- Bewegung, eine neue Friedensbewegung und schließlich die Anti- Partei der Grünen. Die bundesdeutsche Demokratie gewann dadurch an enormer Vitalität und wurde vielfältiger.