Begegnet sind sie mir nach meiner Erinnerung in meiner rheinischen Kleinstadt, in der ich in den 60er Jahren aufwuchs, überhaupt nicht. Den Begriff "Gammler" hörte ich in diesem Zeitrahmen erstmals aus dem Munde meines alten Herrn, der ihn mutmaßlich aus der zeitgenössischen Boulevardpresse übernommen hatte.
Wer oder was waren aber nun die sogenannten "Gammler" der 60er Jahre ? Gesellschaftlich benutzt wurde dieser Begriff für jugendliche Abweichler von der sozialen Norm, die sich oft durch längere Haare und eine gewisse "Uniformierung" wie Jeans und Parkas auszeichneten. Die heute als jugendliche Subkultur bezeichnete Bewegung verlor ihren weitgehend eigenständigen Charakter in den späten 60er Jahren, als Stilelemente des "Gammelns" wie Müßiggang und Schnorren, das Tragen langer Haare, Drogenkonsum und die Vorliebe für Rockmusik allmählich Eingang in die Massenkultur der damaligen Jugend fanden.
In der Presse tauchte der Begriff "Gammeln" erstmals 1963 und ab 1965 verstärkt als Bezeichnung für die oben beschriebenen Jugendlichen auf. Charakterisiert wurde damit eine bewußte Ablehnung bürgerlicher Werte und Normen, z.B. durch Konsumverweigerung, und auch die Ablehnung von geregelter Erwerbstätigkeit oder eines im bürgerlichen Sinne als gepflegt wirkenden Erscheinungsbildes. Wichtigstes äußeres Erscheinungsbild waren die langen Haare, die in den 60er Jahren einen starken Gegensatz zu der damals üblichen Kurzhaarmode bildete. Gammler waren insbesondere in den Zentren von Großstädten anzutreffen, da sie in der Provinz oft kaum oder gar nicht geduldet wurden, während sich in den Citylagen oft bestimmte Örtlichkeiten zu Treffpunkten dieser Subkultur entwickelten.
Zwei Drittel der Gammler galten als Schüler oder Studenten, wobei das typische Alter zwischen sechzehn und einundzwanzig Jahren lag, lediglich ca. 5 Prozent waren fünfundzwanzig Jahre oder älter. Insofern können die Gammler der 60er Jahre durchaus weitgehend als Ausdruck eines spezifischen Verhaltens inmitten der Pubertät betrachtet werden. Junge Männer waren in dieser Subkultur deutlich vorherrschend, und 82 Prozent sollten laut einer Befragung aus der Mittelschicht und bürgerlich geprägten Elternhäusern stammen. Insofern war die Gammlerbewegung keineswegs Ausdruck einer spezifischen Arbeitersubkultur, wie heute gelegentlich behauptet wird.
Die Zusammensetzung dieser Subkultur ergab große Unterschiede in der Motivationslage. Es existierten sowohl reine "Stadtgammler" als auch "Freizeit- und Wochenendgammler", die nur nach Feierabend oder am Wochenende die Szenetreffpunkte aufsuchten und sich rein äußerlich der Gruppe anpaßten, während sie tagsüber ihrer Arbeit oder Ausbildung nachgingen. Andere stiegen während des Urlaubs oder in den Ferien für einige Sommermonate aus und schlossen sich freiwillig dieser Szene an. Nur ein verhältnismäßig kleiner Teil der Gammler waren "Dauergammler", die alle wesentlichen Brücken zur bürgerlichen Gesellschaft abgebrochen hatten. Zeitgenössische Polizeiberichte ordnete die letzte Gruppe, die häufiger durch kleinere Straftaten auffiel und sich weniger als protestierende Subkultur betrachtete, häufig der Stadtstreicher- oder Asozialenszene zu.
Der Lebensunterhalt des Gammlers wurde nach damals gängiger Meinung oft nur durch Gelegenheitsarbeiten und Straßenmusik bestritten. Generell standen die Gammler den gesellschaftlichen Werten und Normen zwar durchaus kritisch gegenüber, lehnten aber gleichzeitig entsprechende Kundgebungen und Interventionen ab. Dagegen bildeten sich zunächst in den Niederlanden ab 1965 die "Provos" heraus, die erste politische Aktionen mit anarchistischem Hintergrund wie z.B. Hausbesetzungen durchführten.
Nach Walter Hollstein handelte es bei dieser Gruppe vorwiegend um Jugendliche, die sich "der Konformität des Lebens bewußt entzögen". Die West- Berliner Innenbehörde stellte damals fest, daß die so benannten Jugendlichen meist einen festen Wohnsitz hätten und auch einer geregelten Arbeit nachgingen. Ihr Verhalten sei nicht darauf zurückzuführen, daß sie arbeitsscheu seien (was eine kleine Minderheit von ihnen dennoch sicherlich war), vielmehr sei ihr Freizeitverhalten Ausdruck eines Protests gegen gesellschaftliche Normen. West- Berlin galt in diesem Zeitrahmen als "Gammlerhochburg", da dort lebende junge Männer nicht zum Wehrdienst eingezogen wurden, so daß bereits damals durchaus auch Umzüge nach West- Berlin stattgefunden haben, um dem Dienst an der Waffe zu entgehen.
In einer Expertise stellte das niedersächsische Innenministerium aufgrund ihrer Herkunft durchaus eine günstige Sozialprognose, bezeichnete sie als "oft geistig aufgeschlossen, oft berufstätig und nur in der Freizeit gammelnd".
In der Bundesrepublik wurden Gammler Mitte der 60er Jahre, ähnlich wie die "Halbstarken" der 50er Jahre, zu einem vielbeachteten Objekt der Medienberichterstattung, obwohl man die Anhänger dieser Subkultur lediglich auf einige Tausend in Europa und einige Hundert (!) in Westdeutschland schätzte. So veröffentlichte das Nachrichtenmagazin "Spiegel" im Jahre 1966 seine Titelstory "Gammler in Deutschland". In der Öffentlichkeit wurde diese Subkultur weitestgehend abgelehnt und gipfelte in Forderungen, den Gammlern die Haare zu scheren und sie zur Zwangsarbeit zu verpflichten. Ebenso führte an vielen Schulen die lange Haartracht einiger Jugendlicher zu Konflikten mit Lehrern und der Schulleitung. In der Bundeswehr kam es seit 1967 zu ersten Verweigerungen, sich die Haare schneiden zu lassen. Erst der "Haarnetz- Erlaß" führte Anfang der 70er Jahre zu einer gewissen Entspannung.
Peter Fleischmann drehte im Jahre 1967 den damals vielbeachteten Dokumentarfilm "Herbst der Gammler" über die Münchener Gammlerszene und die feindseligen Reaktionen zahlreicher Passanten, der an dieser Stelle abgerufen werden kann.
www.youtube.com/watch?v=QubRVaNJTLs
www.youtube.com/watch?v=8lXUc_W_i68
www.youtube.com/watch?v=HkBsaVsz6H4
www.youtube.com/watch?v=deTfC8spgBs